Das Nichts

Das Ehepaar des Todes steht auf einer gläsern aussehenden Plattform im dunklen All. Die Fackel ist auf ihrem langen Weg verloschen. Ihre Gewänder schweben in der Schwerelosigkeit, nur die beiden Körper werden durch eine unsichtbare Kraft auf der kreisrunden Ebene gehalten. Als Mor seine Hand senkt, mit der er gerade geklopft hat, sieht er hoffnungsvoll zu seiner Frau. Die Tödin versucht sich in einem Lächeln. Vor den Beiden schwingt die Raumzeitdimension lautlos einen Schritt beiseite und vor ihnen erscheint die Welt der Großen. Die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde wirbeln durcheinander. Es gibt keinen Boden, kein Oben und kein Unten, es gibt nur Raum mit Materie und Bewusstsein. So manches Bewusstsein bedient sich der Elemente, um zu einem Muster zu werden, manche sehen aus, wie eine Schneeflocke, manche glühen hell. Mor geht einen Schritt hinein, zuerst sieht es so aus, als würde er fallen, doch sogleich löst er sich in Wasser und Luft auf, schwebt zwischen den anderen. Die Tödin schließt noch einmal ihre Augen, geht ebenfalls einen Schritt, zerfällt zu Staub.

 

Damals, als wir das erste Mal wieder heim kamen, hörten wir sogleich die vielen Stimmen, die durcheinanderredeten: „Wir haben gesehen, wie ihr aussaht. Das sind sie.“ „Sie sind also hier.“ fügte eine andere Stimme hinzu. „Sie werden es denken können.“ „Sie konnten es schon denken“ „Wie sollten sie es schon gedacht haben?“ wirbelte es durch den unbegrenzten Raum. Einige glühende Lichterketten imitierten das menschliche Aussehen in der Ferne. Glühende Silhouetten ließen die Wassertropfen, Staubwolken und Luftschlösser erstrahlen. „Das Nichts ist in der Zeitlosigkeit. Es ist der Ewigkeit sehr ähnlich.“ „Wir müssen ihn finden und belehren.“ „Wen?“ stammelte ich: „Der Fantast, der als erster das Nichts denken wird können, muss belehrt werden. Er muss die Schönheit der Existenz erkannt haben, wenn es soweit ist. Wann er da sein wird, wissen wir nicht.“ „Was wird passieren, wenn wir versagen?“ fragte ich. „Dann wird es uns alle nie gegeben haben.“

Mor wirbelte als Dunst in einer Spirale und wisperte bedrohlich: „Ich lösche sie alle aus, dann haben wir dieses Problem nicht mehr.“ Plötzlich wurde es still und ein Feuerball erschien. Groß, wie ein Stern. „Geht einige Schritte mit mir.“ forderte er uns auf. „Es gibt nichts, worauf wir gehen können…“ erwiderte ich irritiert. Doch auf einmal schwirrten die anderen Großen herbei. Sie verwandelten sich in Steine, Erde, Wasserläufe und eine bergige Landschaft ohne organischem Leben entstand. Es erinnerte mich an die Anfangszeit der Erde. Noch bevor die fasrigen Gebilde nahe dem Wasser das Land begonnen hatten zu vereinnahmen. Ich lag am Boden als Staub, Mor hatte sich bereits wieder in seine irdische Gestalt verwandelt und der Feuerball thronte über all dem und ließ uns alle in hellem Licht erstrahlen. Bis er zu uns herunterkam. Der Ball wurde größer, kam näher. Es schien, als würde er alles verschlucken wollen. Doch dann drehte sich das Firmament hinter ihm und langsam wurde es dunkel in der leblosen Landschaft. Berge aus Stein, Ebenen aus Staub und dazwischen floss Wasser. Ich ließ mich durch einen Windhauch tragen – durch den Feuerball und erschien als die Menschenfigur, die ich mir auf Erden gewählt hatte. Als der Feuerball auf den Boden traf verwandelte auch er sich in einen Menschen und es war von einer Sekunde zur anderen stockfinster. Dann immitierten andere Große die Sterne und Monde, sodass wir in dieser Landschaft etwas sehen konnten. Ich war noch ganz erstaunt von all dem, als der Mensch, der der Feuerball gewesen war, zu sprechen fortfuhr: „Fantasten können, was sie wollen. Sie stammen aus dem Nichts. Wenn wir sie nie existieren lassen, dann würden sie im Nichts bleiben und die Existenz nie erfahren. Selbst in diesem Zustand könnten sie ein Bewusstsein entwickeln. Dann hätten sie die Existenz nie gekannt und würden in dem Moment das Universum, wie wir es kennen zerstören. Es ist gut, dass wir sie hier haben und beobachten können. Wenn Fantasten sich etwas vorstellen und daran glauben, kann es Wirklichkeit werden. Das ist die große Gefahr bei ihnen. Denn wenn sie sich das Nichts vorstellen können und daran glauben – ja, es wissen, wie es beschaffen ist – dann kann das Nichts mit einem Mal Wirklichkeit werden und die Existenz auslöschen. Alles, was dann bleibt ist der unbewegte Beweger, so besagt es unsere Überlieferung. Der unbewegte Beweger befindet sich in der Welt der Großen und kann, wenn das Nichts existent wird, einen kleinen Teil der Welt, in der er sich befindet beschützen und retten. Er stellt nur eine Chance für wenige dar. Wie man sich das Nichts vorstellen kann, weiß nur der Fantast. Er stammt aus dem Nichts und es ist ihm, obwohl er sich nur schleierhaft daran erinnern kann, vertraut.“ Mor erwiderte: „Dann müssen wir diesen Kreaturen die Existenz auch noch lebenswert gestalten?“ Der Feuerball in Form eines Menschen lächelte: „Das ist eure Aufgabe.“ „Wie sollen wir das machen?“ fragte ich. „Das obliegt euch. Einige von uns werden inkarnieren um euch zu helfen. Die Fantasten, die sich Menschen nennen, dürfen das Nichts nicht heraufbeschwören.“

Als wir zurück auf die Erde kamen sahen wir bald einen Menschen mit goldenen Flammen als Funken. Ein inkarnierter Großer. Er nannte sich Parmenides und lehrte die Menschen sich über das Nichts keine Gedanken zu machen, denn es wäre ja nicht. Er nickte uns zu und ging weiter. Ich erschauderte. Jetzt wurde es ernst. Die Menschen wurden mehr und Mor schmiedete eine Sense um mehr Seelenfunken auf einmal löschen zu können. Ich machte mir einen Rechen, um meiner Aufgabe nachzugehen. Etwas später erschien er. Ungefähr zur gleichen Zeit als die Menschen begannen die Unsterblichkeit zu träumen und davon zu berichten. Sie wurden mächtiger und wussten es nicht. Im alten Griechenland stand eines Tages ein alter bärtiger Mann mit seinen Schülern Platon und Xenophon. Plötzlich verkündete er „Ich weiß, dass ich Nichts weiß.“ Die Schüler nickten bedächtig, doch die Augen des Mannes blitzten auf einmal und er sah ins Nichts. Sogleich rief ich nach Mor, ich zerfiel zu Staub, ließ mich von Mor tragen und wir fuhren in den Körper des Mannes, um wahrzunehmen was er wahrnahm. Die Schüler indes verstanden ihn anders. Sie dachten, er würde sein Unwissen kundtun. Dabei sahen wir nun, was er sah: Das Universum von außen. Der Rand der Vorstellung mit dem Rücken zur Existenz. Und dahinter: Nichts. Wir konnten es nicht so wahrnehmen, wie Sokrates, der, als Fantast ganz anders mit dem Nichts umgehen konnte. Aber Mor und ich wussten, dass wir ihn gefunden hatten. Sokrates hieß er also, der Fantast der das Nichts wusste. Sokrates war weise und zerstörte das Universum nicht. Doch über seine Schüler war der Satz „Ich weiß, dass ich Nichts weiß“ in die Welt getragen. Für jedermann nachlesbar, für jedermann nachvollziehbar… Eine permanente Gefahr.

Die Menschen entwickelten Geschichten rund um Götter und Fabelwesen. Da Fantasten Realität schaffen können, begannen diese Wesen in einer anderen Sphäre ein Bewusstsein zu entwickeln. Eine Götterwelt entstand, eine Sagenwelt, eine Märchenwelt und jede für sich verselbstständigte sich. Manche Kinder konnten die Wesen wahrnehmen und in den Welten wandern. Manche Kinder waren darin auf ewig verschollen. Wenn eines von ihnen den Weg zurück fand in die Welt der Eltern und jede Welt denken konnte: Die Welt der Mythen, der Götter, Elfen und Kobolde und die der meisten Anderen – dann wurden sie zu Weltenwanderern und behielten diese Gabe. Ich sage deshalb: Die Welt der meisten Anderen, da alle Welten gleichermaßen existieren und real sind. Die heute bekanntesten Weltenwanderer waren Toth der Atlanter und Myrddin, auch bekannt unter Merlin dem Zauberer.

Die Welten waren zu ihrer Entstehungszeit nahe beisammen, jetzt driften sie seit Jahrtausenden immer weiter auseinander. Wenn kein Fantast mehr von einer gewissen Gestalt berichtete, starb sie in ihrer Welt. Eine der ausgefuchstesten Ikonen der Vergangenheit war Ištar. Mit schier unfassbarem Überlebenswillen, hantelte sie sich, als die sumerische Götterwelt ins Vergessen zu geraten schien, in die Sagenwelt. Diese war der Menschenwelt näher und dort nannte sie sich Elfenkönigin. Eines Tages verführte sie einen Mann und nahm ihn mit in ihre Sphäre. Die Menschen bekamen Angst vor der Sagenwelt und die Welt der Großen entschied sich für einen Vergessenszauber. Das brachte die Welten noch weiter auseinander. Sie sollte unseren Weg noch öfter kreuzen.

Denn als wir das zweite Mal in die Welt der Großen traten war alles anders. Niemand der Großen schien uns zu registrieren. Laut schrien sie miteinander, doch wir verstanden nichts. Ich war es, die noch lauter zu schreien versuchte: „Die Elfenkönigin hat wieder einen Menschen mitgenommen!“ brüllte ich. Kaum ein Raunen, das für mich bestimmt war, folgte. Mor fügte hinzu: „Habt ihr gehört? Wir müssen sie verwarnen!“ „Wir haben sie vor hunderten von Jahren bereits verwarnt. Diesmal bedeutet es Krieg.“ ertönte es plötzlich von überall her. Die Großen wurden noch lebhafter und die Elemente verkeilten sich ineinander. „Sie hat den unbewegten Beweger.“ erklärte einer der Großen unter dem lauten Diskutieren der anderen. „Das heißt, wenn das Nichts jetzt gedacht wird, sind wir nicht geschützt. Geht! Geht und überzeugt die Frau, die zurückblieb, dass er tot ist. Die Elfenkönigin wird versuchen die Fantasten auf ihre Seite zu ziehen. Wir werden inkarnieren und die Fantasten davon überzeugen, sich mit dem zu beschäftigen, was sie sehen können. Wenn Sokrates jetzt verstanden wird, haben wir alles verloren. Geht! Geht!“ Und wir gingen. Und sahen unsere Heimat hinter uns verschwinden...

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© Ina Seiser