Das Himmelstor

Bleicher Dunst schlängelt sich die schwarze Treppe hinab. Eine Lichtquelle kommt näher und flackernd lässt sich in ihrem Schein ein Raum erahnen. Tautropfen glitzern. Die Tödin erscheint, eine Fackel in der Hand. Ihr Hut bedeckt ihr Gesicht beinahe zur Gänze, lediglich ein Teil des weißen Unterkiefers lugt hervor. Bedächtig entzündet sie eine weitere Fackel an der Wand. Die Lumpen, in die sie gehüllt ist, verbergen nicht ihre dürre Gestalt. Eine staubige Stimme ertönt wie von jeder Ecke des Raumes gleichzeitig:„Liebchen?“ Sie ist am Fuße der Treppe angelangt und erwidert: „Ja, mein Herz...“ Der Nebel des Zimmers beginnt sich lautlos zu räkeln, die Tropfen an der Wand verdunsten zischend und langsam beginnt sich eine Gestalt aus dem Dampf zu formen. Zuerst durchsichtig, dann immer greifbarer verdunkelt sich das Wasser und eine rauchige Kutte steht wie von selbst. Langsam fließt sie entlang einer Silhouette nach unten. Die Kapuze verdeckt seinen Gesichtsausdruck. „Bist du soweit?“ fragt sie ihn. „Bist du beunruhigt?“ fragt er sie. Ein ernster Mund blitzt unter dem Hut hervor, als die Tödin kurz den Kopf hebt. „Wie sollte ich nicht?“ Die knochigen Hände des Todes suchen seine Frau und ziehen sie an ihn. Er schließt sie in seine Arme und erwidert: „Lass uns gehen.“

Er nahm mich bei der Hand und gemeinsam stiegen wir aus unserer Höhle Stufe für Stufe in die dunkle Nacht empor. Am Ende des steinernen Pfades eröffnete sich über uns der Sternenhimmel. Neumond. Es war ein guter Zeitpunkt. Mit seiner freien Hand zeichnete er eine Figur aus Rauch in die klare Luft und seine Sense erschien. Ich warf Staub in die glühenden Flammen der Fackel und daraus entstand mein Rechen. Gemeinsam tanzten wir den lange geübten, doch beinahe in Vergessenheit geratenen Tanz. Langsam bewegten wir uns zu der alten Musik in unseren Köpfen. Er hob die Sense und zeichnete die Sternbilder nach, wie sie gedacht sind und als er das tat brachte er die Sterne nacheinander zum Funkeln. Die geheime Kombination kannte nur er. Währenddessen malte ich Muster in den Staub mit dem Rechen. Sie erinnerten mich an die erste Schrift der Menschen. Immer wieder die gleichen Muster, übereinander, dann das nächste und nächste, dann das erste wieder. Leise murmelte ich die dazu passenden Worte. Jene, die uns auf die Erde entsandt hatten, als das Leben entstanden war, gaben uns die Fähigkeit, wieder mit ihnen in Kontakt zu treten. Damals haben sie gesagt: „Nehmt das, was ihr nicht kennt, mit, wenn die Sterne dafür gekommen sind.“ Ich habe nicht verstanden, was sie gemeint haben. Dann kam ich hier auf die Erde als formloser Staub. Der Wind trug mich von hier nach dort und nahe dem salzigen Wasser sah ich es dann. Fasrige Gebilde klebten am Felsen. In einer Farbe, die ich bis dahin nicht gekannt habe. Mor, so nannte sich der Tod, kam als rauchige Brise, nahm mich in Beschlag und ich konnte wahrnehmen, was er wahrnahm. Ein Funke war in allem, was wir mitnehmen sollten. Mal leuchtete er glühend, mal glimmte er schwach. Als wir bei einem flackernden Funken vorbeiflogen erstickte er ihn und ich nahm seine Überreste in mir auf. Als das erste Mal Donner und Blitz den Ort an dem wir waren beherrschte und ein Geschöpf Feuer fing, kam eine alte Fähigkeit von mir wieder zum Vorschein. Ich konnte durch die Flammen meine Form ändern. Als Staub durchbrach ich das Flammenmeer und verwandelte mich in die Gestalt meiner Wahl. Da ich damals wenig anderes kannte, wurde ich zu einem Baum. Ich streckte meine Wurzeln tief in die Erde, streckte meine Äste in den Himmel und meine Blätter spielten mit dem Wind. Mor hatte mich beobachtet und bediente sich am Wasser um seine Gestalt zu ändern. Er wurde zu etwas, was einem heutigen Adler gleicht und setzte sich auf einen meiner Äste. Im Laufe der Planetenbewegungen kamen immer mehr verschiedene Wesen auf die Erde. Was mich am meisten faszinierte, waren ihre Farben. Als ich das erste Mal eine Blumenwiese sah, verharrte ich wochenlang, nahm ihre Schattierungen in mir auf. Morgens, wenn die Tautropfen daran hafteten. Abends, wenn der warme Sonnenuntergang die satten Farben in goldrotes Licht tauchte. Ich hörte nur das Plätschern eines nahe liegenden Baches. Mor suchte mich wieder und wieder auf und erinnerte mich an meine Aufgaben. Widerwillig verließ ich den Ort und sobald als möglich kam ich wieder. In der Nähe befand sich eine Höhle. In jener wartete Mor auf mich. Dies wurde unser Zuhause.

 

Als die ersten Wesen ohne Wurzeln das Land besiedelten, hatte ich mich an den Farben noch immer nicht sattgesehen und würdigte die Kreaturen kaum eines Blickes. Mor war es, der eine ganz besondere Verbindung zu den Wurzellosen aufbaute. „Stell dir das doch vor! Sie können da hin, wo sie hin wollen! Sie müssen nicht an einem Ort bleiben! Sie sind frei.“ erzählte er mir aufgeregt. „Sie sehen komisch aus.“ erwiderte ich. Doch aus Neugierde nahm ich manchmal ihre Gestalt an und lief so schnell, schwamm so tief, flog so weit und kletterte so hoch der Körper, den ich hatte konnte. Ich fand auch gefallen an den bunten Wurzellosen, die fliegen konnten. Erst als ich wahrnahm, dass ich die Bunten viel öfter mitnehmen musste, als die, die wie Steine aussahen, lernte ich auch die Schlammfarben zu schätzen. Die Wurzellosen wurden größer, manchmal fraßen sie einander und dann kam der große Stein vom Himmel. Da hatten wir wirklich viel zu tun. Ich kam lange nicht dazu eine Blume oder ein Baum zu sein, es wäre auch nicht schön gewesen, das Licht der Sonne war damals rar. Mor und ich haben gedacht unser Auftrag auf der Erde neigt sich dem Ende zu, doch dann wurden die Tage wieder heller und eines Nachts konnten wir die Sterne wieder sehen. Die kleinen Kreaturen des Waldes bauten fleißig ihre Hügel, das Gras wurde wieder grün und so kehrte Ruhe ein in die, deren Funken wir verschont hatten. Dann kam der Tag, an dem wir beide unruhig wurden. Es gab eine neue Gestalt auf der Erde. Nackt. Kein Federkleid und auch zu groß zum Fliegen, kein Fell und somit nicht richtig geschützt vor Kälte und doch so hartnäckig im Bestehen. Das beunruhigte uns noch nicht. Aber als wir uns neben diesen Geschöpfen als rauchiger Wind und Staub unterhielten, weil einer von ihren Funken sich dem Ende neigte, hörten uns diese Wesen und bekamen Angst. Sie schrien und umarmten sich, manche liefen davon. Schnell erledigten wir, was zu erledigen war, er löschte den Funken, ich nahm die Überreste mit und wir verschwanden in unsere Höhle. Einige Male waren wir bei ihnen und „Mor“ wurde zu einem Begriff für sie. Da hätten wir uns bereits wundern sollen. Der Wind, das Wasser, die Erde und das Feuer wurden zu Gottheiten. Sie begannen sich zu verständigen und malten an Felsen, was sie erlebt hatten. Spätestens dann hätten wir es wissen müssen. Doch erst eines Nachts, als ein Gewitter tobte, ich lag als Staub am Boden unserer Höhle, Mor schwebte als Dunst über mir und einer von ihnen zu uns kam wurde es uns in seiner Tragweite bewusst. Mor und ich sind stets wachsam, deshalb nahmen wir die ersten Schritte in unsere Richtung bereits wahr. Wir schwiegen. Es war ein alter Mann, der den Weg zu uns gefunden hatte. Sein Funke leuchtete jedoch hell. Er setzte sich auf auf einen Stein und lange schwieg er. Dann begann er mit uns zu reden. „Mor.“ brachte er hervor. „Warum bist du nie in der anderen Welt?“ Er sprach in seiner Sprache, doch wir verstanden ihn gut. „Ich will in die andere Welt gehen.“ „Wer bist du?“ fragte Mor von jeder Richtung der Höhle. Ohne zu erzittern erwiderte der alte Mann: „Ein Mensch. Ich beschütze die Gruppe. Sie sagen Pa zu mir.“ „Welche Welt meint du?“ Mor wurde ungehalten. „Die Welt des Schlafes.“ Das Wasser der Höhle verdichtete sich und Mor erschien in der Gestalt eines Menschen. Langsam trat er vor, seine Augen stechend scharf. „Wo ist diese Welt?“ Der alte Mann lächelte unwillkürlich. „Überall. Auch hier.“ „Dann bist du doch schon da.“ Der alte Mann schloss die Augen und sagte: „Komm her. Schau, was ich schaue.“ Mor hielt inne. Sein Körper schauderte. Er wurde wieder zu Luft und Wasser und tastete sich langsam an den Kopf des Alten. Er hatte das noch nie gemacht. Zu schauen, was ein Mensch sieht, wenn er er die Augen zu hatte erschien ihm widersinnig. Er rechnete mit Nacht. Schwarz wie die Nacht würde es sein, wenn er durch die Augen schaute. Doch er irrte sich. Als er seine Sinne mit denen des Mannes vereinte, sah er eine Frau, deren Funken er bereits vor langem mitgenommen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Ihr Funke war doch bei ihm und mir. Doch die Frau stand vor ihm. Sie lächelte und Mor sah einen Funken, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Er war nicht golden, wie die, aller Erdlinge, er sah aus, wie Rauch. Mor materialisierte wieder. „Ich sehe es...“ Der Alte wurde aufgeregt: „Bringe mich dort hin. Ich bin nur dort, wenn ich schlafe. Ich möchte immer dort sein.“ Mor hatte die Augen weit aufgerissen und starrte ins Leere. „Dort kann ich nicht hin.“ sagte er, mehr zu sich selbst, als zu Pa. Enttäuschen machte sich breit auf dem Gesicht des Alten. „Ich werde es den anderen sagen.“ erwiderte er und wandte sich zum Gehen. Mor stand da und sah dem Alten hinterher. Ich lag noch als Staub am Boden. „Mein Herz?“ Mor war immer noch sprachlos. „Müssen wir nach oben?“ fragte ich. Er überlegte nicht lange, suchte lediglich nach seiner Stimme und sagte dann: „Ja. Sie sind es. Sie sind zurück. Wir müssen es den Großen sagen.“ Ich wusste sofort, was er meinte. Fantasten hatten sich unbemerkt entwickelt. Fantasten konnten sich erinnnern, hatten, wie der Name schon sagt Fantasie und konnten alles, was sie wollten, selbst wenn sie es nicht wollten. Ich meine damit, sie machten vieles unbeabsichtigt. Vor allem auf sich alleine gestellt, ohne Ausbildung. Am Anfang der Existenz wurde das Universum beinahe zerstört von einem wie ihnen. So hatte man es mir erklärt. In beherrschtem Ton hatte man davon gesprochen. Doch manchmal, wenn ich ganz ruhig bin, kann ich die Angst spüren, die das Jenseits und das Diesseits gemeinsam haben. Das Nichts ist eine Bedrohung für alle von ihnen. Und die Fantasten, die es denken konnten, waren leibhaftig da.

 

Damals malten ich das erste Mal die Zeichen, die ich jetzt zeichnete. Ich zitterte. Damals und heute. Als wir mit dem Ritual fertig waren bildeten sich die ersten Stufen. Meine von der Erde hinauf, seine vom Himmel herab. Das erste Mal, als wir die Brücke heraufbeschworen, hatten wir Sense und Rechen noch nicht. Doch unsere Gestalt wählten wir damals und behielten sie bei, wenn wir als Menschen erschienen. Wir wählten jene Form, um den Großen zu zeigen, um welche Erscheinungsform es sich handelte. Es war ein Glück, dass in jener Nacht ein Gewitter tobte, so hatte ich Feuer zur Umwandlung. An der Lichtung, an der wir auch jetzt standen tanzten wir. „Liebchen?“ fragte er und ich wurde aus meiner Erinnerung gerissen und stand neben ihm vor den staubigen Stiegen. Ich erzitterte bei der Vorstellung, was uns bevorstand. „Bist du soweit?“ hörte ich ihn fragen und ich bejahte, doch meine Hand in seiner verriet meine Unsicherheit. „Es muss sein.“ fügte er hinzu und so schritten wir weiter die Staubstiege hinauf, bis wir zu den Sternenstiegen gelangten, weiter, bis wir die Erdkrümmung wahrnehmen konnten. Die von Menschenhand geschaffenen Lichter blendeten heute die Nacht. Damals war es unter uns stockfinster. Als ich mich wieder umdrehte und zu den Sternen schaute, erkannte ich bereits, dass die Stiege endete. Das Tor war kaum zu erkennen. Schwarz, wie das All selbst, mit Sternen gespickt. Mor klopfte mit seiner knochigen Hand.

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© Ina Seiser