Der Drache der Erinnerung

Elsa blickt auf das Grab. Die Blumen hatten langsam begonnen zu verwelken. Das sieht sie nicht. Die Inschrift ist es, die sie in ihren Bann zieht. Markus Name. Ein Kreuz daneben? Sie hat Kopfhörer auf und hört ihr gemeinsames Lied. Das konnte nicht wahr sein. Sie spürte, dass es nicht wahr war. In ihrer Tasche befand sich sein altes Tagebuch. Er hatte davon geschrieben, dass er als Kind durch Spiegel in andere Welten gewandelt war. Kindereien… Doch Elsa begriff, dass das ihre einzige Möglichkeit war, wieder mit ihm in Kontakt zu treten. Ohne sich noch einmal umzuwenden ging sie entschlossenen Schrittes zu ihrem Auto und fuhr zum Flughafen. Ihr Anhaltspunkt war vage, doch sie hatte das Tagebuch mehr als einmal gelesen und wusste, dass sie nach Nepal musste. Einige Stunden später befand sie sich bereits mitten in der Fremde.

„Drache der Erinnerung!“ Elsa schrie. Sie war verzweifelt stundenlang umhergeirrt im Schnee auf dem Plateau, wo er sein sollte. Sie kam sich blöd vor, doch die Verzweiflung überwog. „Drache der Erinnerung!“ Erst als sie keine Stimme mehr hatte begab sie sich zurück in ihr Lager, wo die angeheuerten Träger warteten. Ohne ein Wort legte sie sich schlafen, es war bereits Nacht. Sie wollte Kontakt zu Markus herstellen, mit ihm noch einmal reden. Der Eintrag in seinem Tagebuch hatte ihr Hoffnung gemacht. Verstorbene kämen zum Drachen der Erinnerung, stand dort. Sie würden als Staub in die Sterne gespuckt und über diesen Drachen könnte man sie kontaktieren. Mühsam wälzte sie sich in den Schlaf, wurde immer wieder munter. Plötzlich nahm sie etwas wahr. Wind war aufgekommen. Sie schlüpfte müde aus ihrem Schlafsack und lugte aus dem Zelt nach draußen. Eine Gestalt mit einem Rechen wurde von einer Wolke getragen. Sie rieb sich die Augen. Konnte das… Was war das? Sanft stellte die Wolke die Gestalt auf dem Plateau ab, wirbelte herum und… Der Tod? Sie hatte von ihm gelesen, er stand dort mit seiner Sense. Dann musste die Gestalt neben ihm die Tödin sein. Elsa wollte zu ihnen laufen, doch sie war wie gelähmt. Die Tödin klopfte mit ihrem Rechen auf einen Stein. Kurz geschah nichts, dann langsam räkelte sich der Stein und der Kopf eines gigantischen Drachen löste sich vom Boden. Seine Augen glühten. Elsa konnte nicht hören, was sie sprachen. Die Tödin hielt ihren Rechen vor das monströse Maul und der Drache spie Feuer. Elsa sah Funken fliegen. Sie verglühten nicht, es schien als würden sie in die Sterne gespuckt. Wie gebannt starrte Elsa auf das Geschehen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Nach Nepal reisen und mit Sagengestalten in Verbindung treten. Ja, na gut, aber sie war tief in ihrem Innersten davon ausgegangen, dass das nicht funktionieren würde. Sie war verzweifelt, wie jeder Mensch in ihrer Situation es gewesen wäre und sie wollte etwas tun, aber sie hatte doch im Leben nicht gedacht, dass sie tatsächlich auf Wesen treffen würde, sie es eigentlich gar nicht gibt! Die es anscheinend schon gibt. Wäre Markus nicht tot, wäre sie davongelaufen. So zog sie sich wie paralysiert an und ging nach draußen.

 

Das Ehepaar des Todes war nicht mehr da. Nur ein paar Abdrücke im Schnee zeugten von ihrem Besuch. Der Drache war wieder zu Stein geworden. Doch Elsa hatte das Klopfen gesehen und so versuchte sie es auch. Nichts geschah. Noch einmal. Nichts geschah. Elsa versuchte es immer wieder, bis sie sich erschöpft auf den Stein setzte. Da auf einmal räusperte sich jemand. Elsa sah sich um. Der steinerne Drache bewegte sich nicht, er erwachte aber zum Leben. „Katharina.“ Elsa stutzte. Sie nannte sich zwar Elsa, nach ihrer Urgroßmutter, ihr erster Vorname war allerdings Katharina. Elsa blieb sitzen und erwiderte zögernd: „Ja.“ doch sprudelte es dann sofort aus ihr heraus: „Wie geht es Markus? Wo ist er? Kann ich mit ihm sprechen?“

„Markus? Deinen Markus meinst du? ...der ist nicht bei mir.“

„Wo ist er dann? Ich dachte alle Menschenseelen kommen zu dir?“ Elsa war enttäuscht.

„Alle Verstorbenen kommen zu mir, du hast Recht. Markus war mich manchmal besuchen. Nicht so, wie du, er kam anders. Vielleicht ist er in den Spiegelkasten gegangen? Er kommt schon wieder.“

„Ich habe seinen toten Körper begraben, er kommt nicht wieder. Wo könnte er sonst sein?“

„Vielleicht ist er in den Spiegelkasten gezwungen worden.“

„Gezwungen?“

„Dann bleibt der Körper zurück.“ erklärte der Drache lapidar.

Elsa konnte ihren Ohren nicht trauen. Markus konnte also noch am Leben… er konnte zumindest noch existieren. „Wie kann ich ihn wieder holen?“

„Du bist keine Weltenwanderin, du kannst nicht in die anderen Welten. Du musstest auch zu Fuß zu mir, du kannst das nicht.“ Schnaubend schüttelte sich der riesige Drachenkopf.

„Wer kann es dann? Ein Weltenwanderer?“

„Der könnte es versuchen.“

Malik und Eve! Das mussten Weltenwanderer sein, schoss es Elsa durch den Kopf. Plötzlich kam der Wind wieder und die Tödin wurde auf einer Wolke zu ihnen getragen. Elsa bekam es mit der Angst zu tun und so schnell sie konnte lief sie zu ihrem Lager. Sie hoffte, dass die Tödin sie noch nicht entdeckt hatte, öffnete ihr Zelt, mümmelte sich in ihren Schlafsack und stellte sich schwer atmend schlafend. Doch nur wenige Minuten später sah sie zwei Silhouetten vor ihrem Zelt.

„Du glaubst also, du könnest dich vor dem Tod verstecken? In einem Schlafsack?“ Mor verzog seinen Mund zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte. Elsa stockte das Blut in ihren Adern. Doch ungeahnter Mut und die Tatsache, dass sie erfahren hatte, dass sie Markus vielleicht doch wieder haben konnte ließen sie aufstehen und das Zelt öffnen. Im Mondschein standen die beiden vor ihr. Er, groß, mit seiner dunklen Kutte und der Sense. Sie, mit dem Hut und dem Rechen… Elsa zitterte.

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© Ina Seiser