Die Elfenkönigin

„30.3.1999 Diesmal habe ich mich näher herangewagt. Sie hat mich nicht entdeckt. Ich dachte, sie müsste meinen Herzschlag hören, so aufgeregt war ich. Diesmal bin ich durch das verzauberte Moor gegangen. Es war viel einfacher, so in ihr Schloss zu gelangen. Dieser Weg ist nicht bewacht. Das Moor hat die alt bekannten Tücken, aber da ich mich schon vor einiger Zeit mit den Moorkobolden angefreundet habe, waren sie gut zu überwinden. Das Ganze kostete mich keinen ganzen Tag und ich habe mein Lager in der Nacht klein und unauffällig gehalten. Ich möchte sie zwar endlich sehen, die Königin, die das älteste Wesen dieser und jeder anderen Welt sein soll, die eine Göttin war, bevor sie zur Elfenkönigin wurde und die ihr Volk unterjocht. Aber gefangen genommen werden von so einer Gestalt… Da läuft es mir kalt über den Rücken. Über den Baum nahe einem Fenster bin ich dann hinein gekommen. Ich habe sie gesehen, von hinten, sie hat einen Apfel geschält. Sie saß an einer Spiegelkommode und ich konnte nicht widerstehen, einen Winkel zu suchen um ihr Gesicht zumindest ansatzweise zu erkennen. Einen Blick konnte ich erhaschen. Sie sieht weder alt, noch grausam aus, sie wirkte unschuldig, wie sie da ihren Apfel enthäutete. Sie hat gesungen: „Nacht und Tag, Nacht und Tag, Tag es wär schön, wenn du bliebst. Leben ist ein Wimpernschlag. Halt dich fest, wenn du es liebst.“

In dem Land unserer Vorstellungskraft, wo die Moorkobolde wohnen, die Bäume sprechen können und fantastische Gefahren lauern, steht ein elfenbeinfarbener Palast. Tausend Zinnen schmücken seine spiegelglatten Mauern.

 

Ein Fest wird vorbereitet. Emsig fliegen und laufen die Bediensteten umher, dekorieren Torten und Eingänge. Istar, die Elfenkönigin hatte das Fest ausgerufen, den Grund dafür niemandem genannt, doch ein junger Elf hat Wind bekommen, fliegt von Ohr zu Ohr und flüstert: „Wir glauben, sie hat ihn endlich!“ Jeder wusste, wovon die Rede war, Augen weiteten sich und Staunen und Freude breiteten sich wie ein Lauffeuer unter den Anwesenden aus.

 

Istar saß indessen auf ihrem Thron. Sie trug ein silbernes Kleid mit kunstvollen Stickereien verziert. Ihr Gesicht zeigte keine Mimik, wie so oft. In ihrer Hand spielte sie mit einem Stein. Scheinbar gelangweilt warf sie ihn immer wieder hoch, um ihn wieder zu fangen. In ihrem Inneren empfand sie tiefe Ruhe. Sie war an ihrem Ziel angelangt. Vor Jahren hätte sie den Stein umklammert, ihn weder aus den Augen, noch aus ihrem festen Griff entlassen. Doch heute war etwas anders. Sie war siegessicher. Ihre Gedanken waren endlich still. Der Stein flog hoch, der Stein fiel in ihre Hand, immer und immer wieder. Und jedes Mal, wenn sie ihn fing, empfand sie die Genugtuung ihn zu besitzen aufs Neue. Ein grausames Lächeln zeichnete sich in ihr Gesicht. Der unbewegte Beweger war ihr Eigentum.

 

Süffisant murmelte sie in sich hinein: „Und er bewegt sich doch.“ Damit lag sie falsch, das war nur ihre Wahrnehmung. Der Stein war, wo er immer war. Im Zentrum der Existenz. Die Welten hatten sich um den Stein gedreht und im Moment hüpfte das gesamte Universum mit dem Stein in der Hand der Elfenkönigin.

 

Istar kannte die Legende schon lange, doch erst eine Ausgrabung in der Menschenwelt, genauer gesagt in Mezamor, Armenien, brachten sie auf die Spur des Steins. Eine Steintafel hatte von Wesen erzählt, die aus einem See stiegen und einen unscheinbaren Stein an sich nahmen, um auf dem selben Wege wieder zu verschwinden. So unscheinbar diese Situation scheinen mag, so bedeutungsvoll war sie für Istar. Sie ahnte, es musste sich um Große handeln, um die Wächter der Existenz, die sich voll Feigheit in den kleinen Radius des Schutzes um den Stein begeben würden, sollte das Nichts gedacht werden.

 

Istar war es leid, sich von Mythos zu Mythos weiter angeln zu müssen, um zu existieren. Wer dachte heute noch an ihre erste Manifestation, Istar, der babylonischen Göttin. Sie musste wieder und wieder Wege finden, in den Köpfen der Menschen bestehen zu bleiben. Mit dem Stein an ihrer Seite, war der erste Schritt geschafft. Jetzt brauchte sie noch einen Fantasten. Sie konnte den Stein selbst nicht entfesseln, das konnte nur ein Mensch. Sie musste dann nur noch in dem kleinen Radius stehen, den der Unbewegte Beweger schützte und würde zu nie geahnter Größe aufsteigen.

 

Sie ließ nach Markus rufen. Die Großen dürften nicht erfreut sein, dass sich der Stein nicht mehr in ihrem Reich befand. Sie musste schnell handeln. Außerdem wüsste sie nicht, worauf sie warten sollte. Nach dem Fest sollte es soweit sein. Sie hatte lange genug gewartet. Markus hatte sich als brauchbar erwiesen. Sie kannte ihn von seinen unzähligen Besuchen in ihrer Welt. Er dachte, er sei unbeobachtet gewesen, doch Istar wusste von seinen Ausflügen sehr wohl Bescheid. Er war ein Weltenwanderer und als Istar den Plan fasste, den Unbewegten Beweger zu stehlen und sich ein Universum nach ihren Wünschen zu gestalten, hatte sie sofort an ihn gedacht. Doch er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Es war ein Glück, dass er in Hartelsberg geheiratet hatte und sich ihr Brunnen dort befand, die einzige Pforte in ihre Welt, so man kein Weltenwanderer war. Sie wollte ihn überreden mitzukommen. Er hatte sich geweigert. Dann wurde er eben gezwungen. In die Welt der Großen zu gelangen war ein Leichtes für ihn. Istar hatte ihn erpresst. Sie würde Elsa in ihre Gewalt bringen und er würde sie nie wieder sehen. Wenn er aber kooperierte würde sie ihn vielleicht frei lassen. Widerwillig hatte er gehorcht. Eines Nachts beschwor die Elfenkönigin die Welt der Großen in ihren Spiegel. Markus glitt hindurch und gegen Morgen kam er zurück. Den unbewegten Beweger in seiner Hand. Er hatte die Legende nicht gekannt. Wie gut für Istar. Hätte er von der Macht gewusst, die in seinen Händen wartete, hätte er sie womöglich selbst genutzt.

 

Die Tür zum Thronzimmer ging auf und zwei Diener schleiften Markus an seinen Ketten vor die Füße der Königin. Er sah geschunden aus. Die Diener setzten ihn auf einen Stuhl.

„Markus.“

„Du hast gesagt, du lässt mich gehen, wenn ich dir den Stein bringe!“ Markus Augen funkelten wütend.

„Vielleicht, habe ich gesagt. Eine Aufgabe habe ich noch für dich.“

„Habe ich dann dein Wort, dass ich gehen kann?“

Istar zögerte. „Du kannst dann gehen, wohin es dir beliebt. Wenn die Uhr Mitternacht schlägt, werde ich dir deine Aufgabe erklären. Du hast mein Wort.“ Das entsprach der Wahrheit. Es würde die Welten nicht mehr geben, doch das musste Markus nicht erfahren.

 

 

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© Ina Seiser